Kapitel V
LONDON, 1694
Zuerst kam der Gestank. Ein Übelkeit erregender Morast aus Kot, Verwesung und Ruß. Die letzten Meilen vor London schaukelte die Kutsche durch endlose Pfützen. Ein einziger Schlammteich. Der Dreck wurde bis in die Kutsche hineingeschleudert. Alles Getier, das hier vegetierte, war gleichmäßig von einer schwarzen Rußschicht überzogen. Selbst die Vögel warer kaum wiederzuerkennen. Doch es war nicht der Gestank, der John überraschte. Es war der Lärm. Ein fortwährendes Tosen und Brausen, das dem Reisenden schon weit vor der Stadt entgegenschlug und mit jeder Meile lauter wurde, als wäre hinter den Stadtmauern von London ein Bürgerkrieg ausgebrochen.
»Was ist denn da los?«, fragte John Law und löste sich von Mary Astells Lippen.
»Das ist London, Jessamy. London«, antwortete Mary Astell und ordnete ihre Garderobe.
Riesige Menschenmengen drängten sich quälend und schreiend durch die Gedärme der Stadt, verstopften alle Gassen und Straßen und schrien im Chor mit den Pferden, Rindern, Katzen, Hunden, Schweinen, Schafen und Hühnern, die überall waren und überall hinmussten. Die Kinder rebellierten mit Kreischen und Trommeln. Richtung Smithfield wurde eine riesige Herd« zu den offenen Märkten Londons getrieben. Dazwischen versuchten Dutzende, ja hunderte von Kutschen und Karren in die verstopfte Stadt einzudringen. Das plätschernde Geräusch von über fünfzehn Kanälen schwappte wie eine Welle durch die flussnahen Gassen. Die hölzernen und vergipsten Häuser entlang der Verkehrsachsen wirkten wie Schalltrichter, die diesen orkanartigen Lärm wie Kanonenkugeln durch die Straßen Londons jagten, in denen jeder irgendetwas anpries: grüne Bohnen, eine halbe Sau, Zaubertränke, Amulette, Fische, den nahenden Weltuntergang, Gin, ein lahmes Pferd, Sex, eine Flussfahrt, eine Übernachtung. Alles schienen sich die Bewohner Londons von der Seele zu schreien, und manch einer schien dabei längst den Verstand verloren zu haben.
»Das ist London«, schrie Mary Astell. Die Kutsche war abrupt zum Stehen gekommen. Der Kutscher fluchte und ließ die Peitsche schwingen. Menschen brüllten, drohten, schrien, Kinderhände klammerten sich an der Tür fest, versuchten, sie zu öffnen, bettelten um Geld, um Hilfe vor Gespenstern, die die Londoner überall und immer zu hören glaubten. Die Straßenkinder klapperten mit Töpfen und Wasserkannen, damit man sie nicht überhöre, wie Gott, die Jungfrau Maria und die ganze göttliche Brut sie überhört hatten.
»Willkommen in London, Jessamy«, schrie Mary Astell und gab dem Kutscher mit ein paar Stockschlägen gegen die Decke zu verstehen, dass er anhalten sollte.
»Wo ich hier übernachten kann, habe ich gefragt!«, schrie John. »Fragen Sie nach Bugs«, schrie Mary Astell, als sie die Kutsche verließ, »und mich finden Sie im Presseclub ...«
Auf Anraten seiner Reisebegleiterin quartierte sich John Law im Vorort St. Giles ein, der beim Großen Feuer im Jahr 1666 fast vollständig zerstört worden war und heute von Ausländern, Künstlern und Beaus bewohnt wurde. St. Giles lag auf einem pittoresken Hügel, der die Londoner Innenstadt überragte. Die meisten neuen Häuser waren aus Stein gebaut. Die Straßen dazwischen breiter als in der Londoner City, eine Lehre, die man aus dem Großen Feuer gezogen hatte. Von St. Giles aus war es für die hitzköpfigen Hasardeure, die Modegecken und notorischen Wüstlinge (die einen ganzen Nachmittag brauchten, um sich für den Abend herzurichten) ein Leichtes, die Salons zu erreichen, die bereits am späteren Nachmittag öffneten. Es gab viele Salons, und jeder wurde danach gemessen, welche Berühmtheiten ihn mit ihrer Anwesenheit beehrten. Und die Einladungen der Salons entschieden über das gesellschaftliche Überleben der aufstrebenden jungen Gentlemen.
Law begann seine Londoner Karriere in den Salons der Schauspielerinnen und Schauspieler. Für einen schönen jungen Mann war es ein Kinderspiel, in diese Kreise einzudringen, besonders wenn er über so überaus galante Umgangsformen verfügte wie John Law. John gab sich als Wissenschaftler aus, als Mathematiker, der sich mit der Theorie der Wahrscheinlichkeit befasste und ein Buch zu diesem Thema schrieb, womit er auch signalisierte, dass er es nicht nötig hatte, einer bezahlten Arbeit nachzugehen. Abends besuchte er die Schauspielhäuser der Stadt, mit Vorliebe das Drury Lane Theatre. Nicht der Stücke wegen, sondern weil dort die attraktivsten Schauspielerinnen auftraten. Es war wichtig, sich zu zeigen, gesehen zu werden und sich später in den Salons wieder zu begegnen.
Wenn nicht gerade ein bösartiger Wind die gesammelten Dämpfe, Ausdünstungen und Gerüche Londons nach St. Giles hinaufwehte, gehörten die Nachmittage ausgedehnten Spaziergängen. John Law bevorzugte St. James Park.Vauxhall Garden und natürlich den großen Blumenmarkt am Covent Garden. Dort stand eine wunderschöne Kirche. Er liebte diese Kirche oder vielmehr, was sich hinter dieser Kirche abspielte. Im Schatten der Kirchtürme tummelten sich verschleierte Damen, hochnäsig und launisch, aber allesamt verheiratet und aus den adligen Herrschaftshäusern der Umgebung. Sie sprachen leise, kokettierten und konnten es kaum erwarten, sich die Kleider vom Leibe zu reißen und sich der Liebe hinzugeben. Dabei schien das aufwändige Prozedere der Kontaktaufnahme und Terminvereinbarung, dieses schier unerträgliche Hinauszögern des ersten Zusammentreffens, die Begierde erst recht zu steigern.
Häufig ging John auch in die berühmten Kaufhäuser. Im vornehmen New Exchange konnte man alles kaufen, was je von menschlicher Hand erschaffen worden war. Keine Stadt der Welt konnte sich in dieser Hinsicht mit London messen, auch Paris nicht.
Zur Mittagsstunde betrat John jeweils eine der zahllosen Londoner Tavernen. Im »Half Moon« etwa standen die Chancen gut, eine begüterte Dame anzutreffen, die allein an einem Tisch saß. Mit dem Fächer gab sie rasch und diskret zu verstehen, ob der Sitz ihr gegenüber frei war oder nicht. Betrat der schöne John Law das »Half Moon«, begannen die Fächer von allen Seiten zu rufen, diskret und charmant einladend bis dominant oder gar vulgär fordernd. Wer im »Half Moon« zu Mittag aß, musste begütert sein, denn ein Essen in dieser Weinstube kostete mehr als die Kutschenfahrt von Edinburgh nach London.
Nicht immer wählte John Law die Gesellschaft einer Dame zum Essen. Oft aß er allein. Er wusste von seinem Vater, dass jedes Metall in dem Maße kostbar war, als es selten war.
Hin und wieder verbrachte John Law die Nachmittage lesend zu Hause oder besuchte die berühmten Kaffeehäuser, »Will's« am Covent Garden, »The Royal« hinter Charing Cross, »The British« in der Cockpur Street oder das »Slaughter's Coffee House« in der St. Martin's Lane. Das »Slaughter's« war das Stammlokal eines Franzosen mit Namen Moivre. Er war 1688 seines Glaubens wegen von Paris nach London geflüchtet. Meist saß er in der hintersten Ecke des Saals, dort, wo kein Sonnenstrahl ihn beim Lesen und Schreiben stören konnte. Moivre war kein Beau, kein Modegeck, kein Hasardeur. Er interessierte sich weder für schöne Kleider noch für schöne Frauen. Den weiblichen Busen ließ er höchstens als geometrische Form gelten. Obwohl er bereits seit sechs Jahren in London lebte, kannte er die Stadt kaum. Genau genommen lebte Moivre nicht in London, sondern im »Slaughter's Coffee House« in der St.Martin's Lane. Wer Monsieur Moivre besuchen wollte, musste sich in dieses Kaffeehaus bequemen. Isaac Newton gehörte zu seinen Freunden. Doch im Gegensatz zu Moivre war Newton ein weltoffener Mann, der mit anderen Menschen auf natürliche Weise Umgang pflegte. Moivre pflegte Umgang nur mit Zahlen und Theorien - Wirtschaftstheorien, Spieltheorien.Versicherungstheorien. Moivre war das beste Beispiel dafür, dass das größte Talent wertlos war, wenn es das einzige Talent war.
Als John Law zum ersten Mal das »Slaughter's« aufsuchte, fiel ihm die ungepflegte Erscheinung des Monsieur Moivre sofort auf. Was ihn neugierig machte, waren die zahlreichen Bücher auf seinem Tisch. Moivre saß vor einem Stapel Papier und schrieb und schrieb. Immer wieder blickte er gehetzt auf, ohne jemanden im Raum wahrzunehmen, und schrieb dann weiter John Law setzte sich einfach neben ihn und schwieg. Er wusste, dass man zu allen Menschen Zugang fand, wenn man nur ihre Sprache sprach. John Law setzte sich also an Moivres Tisch, bestellte einen Tee und genoss die Ruhe.
»Können Sie das Risiko als Verlustchance definieren?«, fragte Moivre plötzlich, ohne im Schreiben innezuhalten. Er schien John offenbar für einen Studenten zu halten.
»Das Risiko, eine Summe zu verlieren, ist die Kehrseite der Erwartung, und ihr wahres Maß ist das Produkt aus der gewagten Summe, multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit des Verlustes.«
Moivre hob nicht einmal den Kopf. »Wie hoch ist bei zwölf fehlerhaften Nadeln in einer Produktion von hunderttausend Stück die Wahrscheinlichkeit, dass in der Gesamtproduktion die tatsächliche Durchschnittsquote an Fehlstücken 0,01 beträgt?«
»Sir«, entgegnete Law höflich, »das ist die Formel für die A-posteriori-Wahrscheinlichkeit zum Bayer'sehen Satz. Aber ich habe nicht die Absicht, als Gedächtniskünstler auf Jahrmärkten aufzutreten.«
Monsieur Moivre sah immer noch nicht auf: »Was wollen Sie dann? Eine Anstellung in einer Versicherungsgesellschaft? Price Water sucht Mathematiker, die eine Sterblichkeitstabelle der Londoner Bevölkerung erstellen können und daraus die Prämien für Lebensversicherungen und Leibrenten ableiten können.«
Jetzt legte Moivre seine Feder nieder und schaute John Law in die Augen. Der Franzose stank nach Fisch und Knoblauch. Sein Gesicht war fahl und unrasiert, die Nackenhaare kräuselten sich in alle Richtungen. Moivre war erst dreißig Jahre alt, aber er sah so aus, als hätte er die letzten zehn Jahre mit einem immensen Vorrat Gin tief unten in einem Bergwerk verbracht.
»Schickt Sie Thomas Neale?«, fragte Moivre, als John nicht antwortete.
John Law schmunzelte. Er kannte keinen Thomas Neale, aber er wollte sehen, worauf der Franzose hinauswollte. »Vielleicht.«
»Also«, begann Moivre gereizt, »dann hat Sie Thomas Neale geschickt. Sagen Sie ihm: Es gibt bereits in Venedig eine Staatslotterie. Und es gibt eine in Holland. Und jetzt will er auch eine veranstalten. Soll er doch. Aber ich befasse mich nicht mit der Theorie von Staatslotterien. Dafür kann er sich irgendeinen Studenten nehmen.«
»Ganz Ihrer Meinung. Aber bitte verraten Sie mir doch: Wer ist Thomas Neale?«, fragte John Law und grinste übers ganze Gesicht. Moivre wollte schmunzeln, aber er schien es doch verlernt zu haben. Er nuschelte griesgrämig: »Sie kennen Thomas Neale nicht? Den Münzmeister des Königs? Wenn Sie in irgendeinem Salon Spiele um Geld veranstalten wollen, brauchen Sie von Thomas Neale eine Bewilligung.« Moivre musterte John Law erneut, dann fragte er unvermittelt: »Sie würfeln mit zwei Würfeln siebenundsiebzig Mal, welche Gesamtzahl wird am häufigsten gewürfelt, was ist ihre Wahrscheinlichkeit und wie hoch liegt die relative Wahrscheinlichkeit?«
»Die Gesamtzahl Sieben wird am häufigsten gewürfelt, die Wahrscheinlichkeit liegt bei sechs Sechsunddreißigstel und die relative Wahrscheinlichkeit bei 1,17«, antwortete Law geduldig.
»Sie sind Spieler, Berufsspieler«, konstatierte Moivre enttäuscht und machte keine Anstalten, seine Verachtung zu verbergen.
»Nein, Sir, ich beschäftige mich mit wirtschaftstheoretischen Systemen, die dazu beitragen könnten, die maroden Staatsfinanzen zu sanieren und dem Land zu einer neuen wirtschaftlichen Blüte zu verhelfen.«
Moivre schob seine Papiere in die Tischmitte. Jetzt schien ihn John Law zu interessieren.
»Der Krieg hat alles weggefressen. Die Könige in Europa sollen mit ihren Kriegen aufhören. Krieg schafft keinen Mehrwert. Krieg frisst unser Geld weg. Wir haben keine Metalle mehr, um Münzen zu gießen. Es ist immer weniger Geld in Umlauf, und wir brauchen gleichzeitig immer mehr, weil die Waren teurer werden. Und was ist nun Ihre Überlegung dazu, Sir?«
»Die Gründung einer Bodenbank.«
Jetzt war es an Moivre, bis über beide Ohren zu grinsen: »Sie sind Schotte?« John Law nickte: »John Law of Lauriston.«
»Mein Name ist Moivre«, antwortete der Franzose, »ihr Landsmann William Paterson ist gerade dabei, eine englische Bank zu gründen. Aber Sie, Sie wollen eine Bodenbank gründen?«
»Ja«, sagte Law, »Sie haben ein Grundstück. Dieses Grundstück hat einen Wert. Für diesen Wert erhalten Sie von der Bodenbank ein Dokument, das diesen Wert bestätigt. Dieses Dokument ist Geld aus Papier. Papiergeld. Mit diesem Papiergeld können sie Waren und Dienstleistungen beziehen.«
»Und die Bodenbank ist vorübergehend Besitzerin des Grundstückes.«
»Ganz recht. Sie hat stets einen reellen Gegenwert. Die Münze ist so viel wert wie das Metall, das in ihr steckt, und das Papiergeld wäre so viel wert, wie das Grundstück, das dafür hinterlegt worden ist. Damit verwandeln Sie über Nacht den gesamten Boden Englands in liquides Bargeld.«
»Wissen Sie, wie viele Grundstücke durch den Krieg schon ruiniert worden sind?«
»Sie haben mich gefragt, mit welchen Fragen ich mich beschäftige.«
Moivre nickte nachdenklich: »William III. braucht frisches Geld. Aber niemand will dem König etwas leihen, denn seine Vorgänger haben ihre Kredite bis heute nicht zurückbezahlt. Das Problem, Mr Law, ist das Vertrauen. Wenn Gott hinter Ihrer Bodenbank stehen würde, könnte es vielleicht funktionieren. Vielleicht. Aber ich sage Ihnen ganz ehrlich, ich vertraue nicht mal Gott. Die Wahrscheinlichkeit, dass es ihn gibt, beträgt weniger als ein Prozent. Aber das erzähle ich Ihnen ein andermal. Heute habe ich noch zu tun.«
Moivre nahm seine Feder wieder in die Hand und strich sich mit dem oberen Ende nervös über die Lippen.
»Wissen Sie, Mr Law, es gibt in London zehntausende von originellen Ideen, Modellen und Theorien. Aber nur die wenigsten werden die nächsten Monate überleben. Und es wird wieder neue Ideen, Modelle und Theorien geben, und in hundert Jahren werden vielleicht eine Hand voll überlebt haben. Weil sie sich bewährt haben. Sir, für Ihr Modell brauchen Sie nicht nur ein Stück Papier und eine mathematische Kurve, nein, für Ihr Modell brauchen Sie ein ganzes Volk und einen König, der Ihnen gestattet, an seinem Volk ein Experiment durchzuführen. Und wenn es Ihnen gelingt, das schnelle Geld zu erfinden, werden Sie eines Tages der reichste Mann der Welt sein.« Moivre grinste: »Man müsste dafür ein neues Wort erfinden, Millionär.«
Das Gespräch mit Monsieur Moivre hatte John Law nachdenklich gemacht, und so verbrachte er die folgenden Tage lesend und grübelnd in seinem Haus in St. Giles. Mag sein, dass er die Dinge zu einfach gesehen hatte. Er brauchte dringend Zugang zu besseren Kreisen, die ihm erlaubten, seine Theorien an höchster Stelle vorzubringen. Doch seine eigenen Geldmittel, über die er noch verfügte, wurden bereits knapp. Er brauchte also dringend eine neue Einnahmequelle. Oder eine zahlende Mätresse. Mindestens eine.
Der Salon von Lord Branbury wurde rasch zu John Laws Lieblingssalon. Lord Branbury war ein liebenswerter, stiller Mann, der es einfach genoss, Gäste zu haben. Er hielt sich stets diskret zurück, ließ großzügig bewirten und erfreute sich an den attraktiven Damen, die ihn beehrten, und den Beaus, die sich an den Spieltischen niederließen und Pharao spielten.
Pharao wurde mit einem Satz von zweiundfünfzig Karten gespielt. Es gab das rote Karo, das rote Herz, das schwarze Pik und das schwarze Kreuz. Die kleinste Karte war die Zwei, die höchste das Ass. Der Spieltisch bestand aus einem Teppich, auf dem mit Stickereien sämtliche Karten dargestellt waren. Die Spieler setzten Geldbeträge auf die gestickten Kartenmuster, und der Bankhalter zog aus einem von zwei Stapeln eine Karte. Es gab verschiedene Gewinnmöglichkeiten, je nachdem ob man die Farbe, gerade oder ungerade, Ass bis Sechs oder Sieben bis Dreizehn gesetzt hatte. Mit zunehmendem Spiel wurde das Setzen einfacher, weil derBankhalter immer weniger Spielkarten zur Verfügung hatte und die Wahrscheinlichkeit, richtig zu schätzen, zunahm. Wer hier gewinnen wollte, musste über ein hervorragendes Gedächtnis verfügen und die Kunst beherrschen, blitzschnell Wahrscheinlichkeitsrechnungen anzustellen. Es war das Spiel von John Law. Es gehörte zu den Gepflogenheiten des Hauses, dass man in einer Vorhalle Geld in Jetons eintauschte. Die Jetons waren aus Horn und stellten Götter oder Tiere aus der griechischen und römischen Mythologie dar. Es waren Kopien jener kupfernen Geldplatten aus vorchristlicher Zeit, als Geldmünzen noch nicht klein und rund waren und noch dem Wert eines Rindes entsprachen, weshalb die Römer anfänglich für »Vieh« und »Vermögen« ein und dasselbe Wort verwendeten: pecunia. Später bedeutete pecunia nur noch Geld. Selbstverständlich konnte man im Salon von Lord Branbury auch mit echtem Geld spielen, aber da Spieler aus verschiedenen Nationen anwesend waren, ersparte es dem Bankhalter die Umrechnung der Währungen. Diese Aufgabe wurde dem Salonbesitzer überlassen, der die fremden Münzen abwog und dafür Jetons ausgab, die man am Ende des Abends wieder zurücktauschen konnte.
»Wenn König William III. Jetons aus Papier ausgeben würde, könnte er glatt die im Umlauf befindliche Geldmenge verdoppeln«, scherzte John Law, als er in der Vorhalle zehntausend Pfund umtauschte. Lord Branbury, der jeden seiner Gäste in den Salon zu begleiten pflegte, sah John Law verwundert an. Er mochte den Schotten. Er hatte nicht nur Geld, sondern auch Manieren, war bei den Damen äußerst beliebt und faszinierte die Menschen an seinem Spieltisch.
»Ich fürchte«, entgegnete Lord Branbury, »kein Mensch würde Metallmünzen gegen Papier umtauschen.«
»Selbst wenn der König persönlich diese Papiere unterzeichnen und den Rücktausch in Metallmünzen garantieren würde?«, fragte John Law im Plauderton.
»Selbst dann nicht, Mr Law. Unsere Könige stehen im Ruf, ihre Schulden nicht zu begleichen. Unsere Könige mögen nach fünfundzwanzig Jahren manche Schlacht gewonnen haben, aber das Vertrauen haben sie für die nächsten hundert Jahre verloren.«
John Law nahm diese Offenheit mit einer wohlwollenden Verneigung zur Kenntnis und flüsterte: »Sie genießen zu Recht mehr Vertrauen als König William III. Bei Ihnen würde ich mein gesamtes Vermögen eintauschen.«
Lord Branbury bedankte sich seinerseits mit einer galanten Verbeugung.
»Betty Villiers zählt heute Abend zu meinen Gästen«, flüsterte Lord Branbury so leise, dass es geradezu konspirativ wirkte, »sie steht dem König... nun ja - sehr nahe. Falls Sie also ein Anliegen haben sollten, Sir, das für Seine Majestät, unseren König, von Interesse sein sollte ...«
Betty Villiers war in der Tat eine überaus faszinierende und attraktive Frau. Wenn John Law die Bank führte, saß sie gern zu seiner rechten Seite. Sie mochte bereits Ende dreißig sein, verfügte aber über alle Attribute, die sich ein alternder König nur wünschen konnte. Und sie benutzte nie einen Fächer.
Auch Catherine Knollys benutzte nie einen Fächer. Sie war Mitte zwanzig, und ihre blasse Alabasterhaut hatte auf der linken Gesichtshälfte ein handtellergroßes Feuermal. Lord Branbury hatte sie als seine Schwester vorgestellt. Es hieß, sie sei mit Lord George of St. Andrews verheiratet, aber dieser sei nach Paris geflüchtet, nachdem er als notorischer Katholik beim König in Ungnade gefallen sei und mehrere Monate im Gefängnis Newgate verbracht habe. Er hatte also einfach seine Frau zurückgelassen. Ohne Abschied, wie es hieß. Reisende berichteten, dass Lord George jetzt in Paris wohne und sich einer Gruppe von Menschen angeschlossen habe, die James II., dem früheren katholischen König von England, nahe standen. Andere Quellen behaupteten, ihr Mann sei ein Verräter und Spion und plane im französischen Exil den Sturz von William. Auch in der Politik gab es zahlreiche Theorien. Und wo es an Wissen mangelte, gediehen die Gerüchte.
Lady Knollys war eine Frau, die durch ihre Stille auffiel. Selbst wenn sie fernab der Spieltische im Halbdunkel stand, spürte John Law ihre Blicke, ihre Nähe. Sie schien ihm auf Anhieb vertraut. Manchmal, wenn er die Karten verteilte und plauderte, wie es die Gäste von ihm erwarteten, spürte er die Wärme ihres Blicks. Und wenn er dann langsam den Kopf hob unc die junge Frau im Halbdunkel suchte, glaubte er sie sprechen zu hören. Ihre bloße Anwesenheit machte ihn glücklich.
Einer der auffälligsten Gäste im Salon von Lord Branbury war ein kleiner, untersetzter, pockennarbiger Mann, der mit seiner nervösen, quirligen Art alle Blicke auf sich zog. Er war ohne Zweifel ein besessener Spieler. Dabei war ihm das Glück alles andere als hold. Er verlor und verlor und konnte doch kein Ende finden. Wenn er keine Jetons mehr hatte, reichte ihm ein Diener einen Schuldschein, den er flüchtig unterschrieb, um gleich darauf weiterzuspielen. Sein Name war Neale, Thomas Neale, der Münzmeister des Königs, der seit Jahren versuchte, in London eine Lotterie auf die Beine zu stellen. Thomas Neale war aber nicht nur der Münzmeister des Königs, sondern auch Kammerdiener. Er war ein königlicher Beamter. Ihm war es auferlegt, Lizenzen für das Glücksspiel in den Salons zu erteilen. Zu seinen Pflichten gehörte auch die Überprüfung von Würfeln und Karten. Er hatte Streitigkeiten in den Salons zu schlichten. Ohne seine erfolgreichen Immobilienspekulationen, die er nur als Protege des Königs durchführen konnte, wäre Thomas Neale längst verlumpt und würde heute in einer maroden Holzbaracke im Hafen von London dahinvegetieren.
Thomas Neale warf mit den Jetons nur so um sich, als seien sie die nutzlosesten Gegenstände der Welt. Sein Gesicht glich einer Enzyklopädie der menschlichen Ausdrucksformen. Mal drückte er die Lippen derart zusammen, dass es einen tierischen Ausdruck annahm, dann gluckste er plötzlich aus Versehen und fuhr vor Schreck in sich zusammen, weil er sich schämte, und im selben Augenblick riss er die Augen auf, öffnete leicht den Mund und starrte ungläubig auf die Karte, die John Law soeben gezogen hatte. Thomas Neale hatte auf die falsche gesetzt. John Law hatte schon viele Spieler erlebt, aber noch keinen derart besessenen wie Thomas Neale. Kein Gesetz der Welt hätte den Münzmeister des Königs davon abhalten können, zu spielen.
Der Gentleman an John Laws Tisch rückte die goldgelbe Allongeperücke zurecht, zupfte an seinem blauen Seidenschal, nahm das nächste Manuskriptblatt zur Hand, räusperte sich und erhob die Stimme:
»Denn alles Glück oder Unglück des Menschenlebens liegt darin begründet, ob du anwesend bist oder nicht. Was tun die Menschen nicht, um dich zu erlangen? Was für Gefahren nehmen sie nicht in Kauf, was für Schurkereien begehen sie nicht um deinetwillen! Für dich werden Könige zu Tyrannen, Untertanen unterdrückt, Völker zerstört, Väter gemordet, Kinder verstoßen, Freunde verraten. Für dich lässt sich die Jungfrau entehren, verkommt der Ehrenmann, wird der Weise zum Narren, der Aufrechte zum Schurken, der Freund zum Verräter, der Bruder zum Fremden. Aus Christen werden Heiden, aus Menschen Teufeln. Du bist das große Ruder, das den Kurs der Welt bestimmt, die große Achse, um die sich der Erdball dreht.«
John Law saß mit Mary Astell an einem der Tische im Londoner Presseclub und lauschte den Worten dieses entrückten Exoten, der sich unter dem Gejohle der Anwesenden zu immer neuen Tiraden hinreißen ließ.
»Worüber spricht dieser Mensch eigentlich?«, fragte John.
»Über Geld, Sir. Er spricht immer über Geld; über das Geld, das er hat; über das Geld, das er hatte; über das Geld, das er nicht hat, und über das Geld, das er haben möchte und nie haben wird. Das ist Daniel Foe. Neuerdings nennt er sich de Foe - künstlerische Freiheit -, und als Autor will er sich jetzt Daniel Defoe nennen. Er meint, sein Name müsse eine Marke werden, wie >Bushmills<, der Irish Whiskey, in dem er seinen Verstand ersäuft hat.«
»Er ist Schriftsteller?«, fragte John Law.
»Er hat ein Handelsschiff gekauft, das er >Desire< getauft hat. Leider ist die >Desire< bereits eine Woche nach dem Auslaufen gesunken. Obwohl verschuldet, hat er daraufhin die erste Schiffsversicherung von London gegründet. Dummerweise hat er ausgerechnet die englische Flotte versichert, die wenige Wochen später im Krieg gegen Frankreich vernichtet wurde. Dann hat er mit der Stadt einen Pachtvertrag über das Sumpfgebiet an der Themse bei Tilbury abgeschlossen, weil er annahm, dass dort eines Tages die Stadtverwaltung eine neue Befestigung errichten würde. Doch er hat sechs Prozent für den Kredit bezahlt und nur fünf Prozent Pachtzins erhalten.«
»Sie meinen, Mathematik ist nicht seine Stärke, also muss er ein echter Schriftsteller sein?«
Mary Astell lachte und zeigte dabei ihre schönen Zähne. John betrachtete sie ganz hingerissen und dachte an das, was sich vor wenigen Wochen in der Kutsche nach London ereignet hatte.
»Ja, er ist ein Schriftsteller, der als Unternehmer reich werden wollte und dabei gescheitert ist. Jetzt macht er aus seinem Scheitern eine Ideologie und geißelt Gesellschaft und Staat. Er kommt gut an bei den Leuten.«
Plötzlich erhob sich tumultartiges Geschrei. Soldaten stürmten den Saal. Die meisten Anwesenden sprangen auf und versuchten zu entfliehen. Aber die Soldaten hatten nur ein Ziel: den Mann, der sich Defoe nannte. Sie ergriffen den Schriftsteller und sprachen eindringlich auf ihn ein. John Law konnte jedoch wegen des allgemeinen Lärmpegels die Worte nicht verstehen.
Mary Astell beugte sich zu John Law: »Offenbar hat das Königshaus sein Gnadengesuch abgelehnt.«
Defoe wurde aus dem Saal gezerrt. Mary Astell erhob sich und forderte John Law auf, ihr zu folgen: »Manchmal bietet das Theater in London Nachmittagsvorstellungen. Sie dürfen mich begleiten.«
Gemeinsam verließen sie das Gebäude und folgten der aufgebrachten Menschenmenge, die Defoe und den Soldaten durch die Gassen folgte.
»Was wirft man ihm vor?«, fragte John Law.
Mary Astell lachte amüsiert: »Es sind nicht die Schulden. Schulden hat Mr Defoe immer. Egal was er unternimmt, es endet im finanziellen Desaster. Jetzt versucht er sich als Verfasser von anonymen Pamphleten und predigt die brutale Unterdrückung des politischen Gegners, der Partei der Dissenter. Deshalb wurde er von den Torys angeklagt. Was der Sache ihre Brisanz verleiht, ist die Tatsache, dass Wendehals Daniel Defoe selbst ein Dissenter ist. Er predigt anonym die Unterdrückung seiner eigenen Partei, um die Schuld der anderen Partei in die Schuhe zu schieben. Das ist Daniel Defoe, wie er leibt und lebt.«
Als sie den großen Platz hinter dem Presseclub erreicht hatten, schafften die Soldaten Daniel Defoe auf das Podest hinauf, wo der Henker von London bereits mit dem Pranger wartete. Mit geübtem Griff packte er Defoe am Nacken und drückte ihn gegen den Querbalken, direkt in die runde Aussparung, die für den Hals vorgesehen war. Zwei Soldaten ergriffen je eine Hand des Schriftstellers und drückten diese an die äußere Enden des Balkens. Zu guter Letzt wurde die andere Hälfte der Apparatur in Defoes Nacken gedrückt und festgeschraubt. Daniel Defoe brüllte. Er schrie. Er bettelte. Er winselte. Dann stieß er plötzlich wieder wüste Beschimpfungen aus. Mittlerweile hatte sich eine große Menschenmenge auf dem Platz versammelt. Alle standen um die Holzbühne herum, auf der der Pranger montiert war. Es war ein Stehpranger. Das heißt, der Delinquent kniete nicht wie in anderen Städten üblich. So konnte ihn jeder sehen. Schließlich war London eine Stadt mit über siebenhunderttausend Einwohnern.
Und das Volk von London hatte seinen Spaß. Zuerst traf ein fauliger Kohlkopf den Schriftsteller mitten ins Gesicht. Die Menge johlte, während der Henker, den Buchstaben des Gesetzes folgend, das anonyme Pamphlet von Daniel Defoe öffentlich verbrannte. Der schloss die Augen. Diese öffentliche Demütigung, nicht unweit seines Hauses, das kürzlich zwangsversteigert worden war, brach ihm das Herz. Kaum war das Pamphlet abgefackelt, verließen der Henker und die Soldaten den Pranger und bahnten sich eine Gasse durch die grölende Menschenmenge. Jetzt kannten die Leute kein Halten mehr. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde dem bankrotten Verfasser des niederträchtigen Pamphlets an den Kopf geworfen: Küchenabfälle, Erdklumpen, tote Mäuse und Ratten, einige packten Kot in Lumpen und warfen ihn dem selbst ernannten Poeten ins Gesicht. Vergeblich versuchte Defoe, den Geschossen auszuweichen. Dabei überdehnte und zerrte er die Nackenmuskulatur. Die Haltung mit den gestreckten Armen und dem gebeugten Genick verursachte nun höllische Schmerzen, Defoe brüllte um Hilfe. Niemand hatte Mitleid. In London kannte man kein Mitleid, weil auch das Schicksal mit London kein Erbarmen kannte. Die Londoner hatten Pest, Feuersbrünste und Kriege erlitten. Hatte sich Gott deswegen jemals ihrer erbarmt?
Am hinteren Ende des Platzes entstand ein neuer Tumult. Eine Gruppe von Leuten versuchte sich mit Gewalt zum Pranger durchzuschlagen. Es waren junge Hafenarbeiter, die Daniel Defoe verpflichtet hatte, für den Fall, dass die Krone seinem Gnadengesuch nicht entsprechen würde, zu seinem Schutz herbeizueilen. Die Burschen schwangen Holzknüppel. Drohend stellten sie sich nun um das hölzerne Podest und blickten wild entschlossen um sich. Die Schaulustigen begriffen, dass der Spaß vorüber war, und verzogen sich. Jetzt kamen streunende Hunde. Sie scheuten keine Fußtritte, um einen Platz unter dem Podest zu erobern. Dort gab es Schatten und mehr Abfälle als bei einem fürstlichen Bankett.
»Wie lange muss er dort stehen?«, fragte John Law.
»Bis zum Abend. Wollen Sie mich noch so lange warten lassen?«, scherzte Mary Astell, während ein älterer Herr in modischem Franzosenanzug auf das Podest stieg und mit viel Pathos eins von Defoes Pamphleten verlas: »Sei mir gegrüßt, du Ungeheuer, das mich hier bestraft und mich sinken lassen will in tiefste Armut. Halte ein, du Ungeheuer, damit ich nicht gezwungen werde, zu stehlen, meinen eigenen Nachbarn zu berauben oder ihn gar zu töten und aufzufresser ...«
»Wo finde ich Beau Wilson?«, fragte John Law.
»Im >Green Dog<. Dort finden täglich Auktionen statt. Letzte Woche wurde das Bett einer französischen Königin versteigert. Aber Beau Wilson hat mich überboten. Er liebt, was andere begehren.«
»Sie wollten wirklich ein Bett kaufen?«
»Wieso? Sie wollen mir doch nicht etwa ein zweideutiges Angebot machen?«
Thomas Neale, der Münzmeister des Königs, war so ziemlich allem verfallen, was die Großstadt einem labilen Menschen an Verlockungen nur bot. Als er spürte, dass John Law für diesen seinen Lebenswandel nicht nur stillschweigendes Verständnis zeigte, sondern ihn geradezu zu bewundern schien, nahm er den jungen Mann aus Edinburgh gern unter seine Fittiche. Saß Thomas Neale also nicht gerade in seinem Amt, dem Tower von London, führte er John Law durch die Edelbordelle der Stadt, in denen man sich für wenig Geld die Syphilis holen konnte. Thomas Neale zeigte ihm jeden Londoner Spielsalon, jede Kneipe, in der Finanziers, Händler und Geschäftsleute verkehrten, und stellte John Law jeder Person vor, die in London irgendeine Bedeutung hatte.
In London gab es über zweitausend Kaffeehäuser, und jede Berufsgruppe hatte ihre Präferenzen. Die gelehrten Mitglieder der Royal Society trafen sich im »Grecian« im Devereaux Court, Anwälte besuchten das »Nandos« in der Fleet Street. Den notorischen Spielern und Hasardeuren begegnete man im »White«, die Beaus gingen ins »Man's« an der Themse. Und stets wusste man, wann wer und wo erreichbar war. Vielen diente das Kaffeehaus als temporäres Arbeitszimmer. In einem Kaffeehaus gab es alle Zeitungen, Gazetten und Flugblätter der Stadt zu lesen. Wollte man also irgendetwas publik machen, druckte man ein Flugblatt und verteilte es mit der neuen »Pennypost« an alle Kaffeehäuser der Stadt. Für einen Penny, den man der Dame de Comptoir gab, konnte man hier so viel Kaffee trinken, wie man wollte, und dazu noch eine der langen Tonpfeifen schmauchen.
Eines Abends führte Thomas Neale John Law ins »Green Dog«. Das Kaffeehaus wurde von vielen Neureichen besucht, die darauf angewiesen waren, ihre neu erworbenen Häuser in Windeseile mit standesgemäßem Mobiliar auszurüsten. Es war schon spät in der Nacht, um nicht zu sagen früh am Morgen, und so traf man hier all die Beaus und stadtbekannten Wüstlinge, die ihre mühevolle Arbeit an diesem Tag bereits verrichtet hatten und nun zur Ausnüchterung ein paar Tassen starken Kaffees brauchten. Dabei lasen sie die Auktionslisten der nächsten Tage.
Thomas Neale bestellte einen Kaffee nach dem anderen. Wer Kaffee trank, demonstrierte, dass er kein Mann von gestern war. Für die Alten war Kaffee stinkendes Pfützenwasser, das Männer impotent machte. Für den Mann von Welt genoss Kaffee wie Tee, Schokolade und Tabak die Aura des Neuen, stammte er doch aus fernen Kontinenten, die mutige Handelsfahrer entdeckt und erschlossen hatten. Kaffee war aber auch das einzige brauchbare Mittel, um nach dem Besuch von Bierhäusern, Clubs und Tavernen wieder einigermaßen nüchtern zu werden, um am Morgen wieder arbeiten zu können. Der Duft von frisch gemahlenen Kaffeebohnen, der süßliche Qualm von Virginiatabak, die frisch gedruckten Zeitungen und die neuesten Gerüchte vom Hof und den entlegenen Weltgegenden - das war für diejenigen, die es sich leisten konnten, das wahre Leben. Obwohl das »Green Dog« als vornehmes Lokal galt, ging es zu so später Stunde wüst zu wie in einer Kaschemme.
»Venedig hat eine Lotterie eingeführt. Haben Sie davon gehört, Sir?«, schrie Thomas Neale gegen den allgemeinen Lärm an. Er reichte dabei die Tonpfeife an seinen Nachbarn weiter.
»Aber ja. Holland will auch eine staatliche Lotterie einführen«, entgegnete Law laut, »aber ich missbillige Lotterien aus moralischen Gründen. Sie machen den Ärmsten falsche Hoffnung und ziehen ihnen nur das letzte Geld aus der Tasche.«
»Nein, nein, Sir«, dröhnte Thomas Neale. Seine Stimme klang wie die eines Arbeiters im Nordosten der Stadt, wo Manufakturen und Werkstätten wie Pilze aus dem Boden schossen. »Mit einer Lotterie könnte der König den Krieg gegen Frankreich finanzieren. Wir verkaufen staatliche Anteilsscheine im Wert von je zehn Pfund. Insgesamt für eine Million Pfund. Der Zins beträgt zehn Prozent, Laufzeit sechzehn Jahre, das ist enorm. Und der Staat haftet für die Einlage und den Zins. Ähnlich wie in Venedig lassen wir die Anteilsscheine an einer jährlichen Ziehung teilnehmen. Dieser Anteilsschein oder diese Losanleihe oder Staatsobligation oder wie Sie das Stück Papier nennen wollen, wäre also gleichzeitig ein Glückslos. Ich habe ausgerechnet, dass wir jedes Jahr ein Preisgeld von insgesamt vierzigtausend Pfund verschenken könnten. Ich brauchte aber jemanden, der mir den Gewinnplan berechnen kann.«
»Ich verabscheue staatliche Lotterien«, entgegnete Law lauter als beabsichtigt und sah sich vorsichtig um.
Thomas Neale polterte mit der Faust auf den Tisch und verlangte nach einem weiteren Kaffee.
»Ausgerechnet Sie, John Law, wollen mir weismachen, dass Sie Glücksspiele hassen? Sie sind schließlich selbst ein Spieler!«
»Ich spreche von staatlichen Lotterien, Mr Neale. Ich bin nicht der Staat. Und als Bürger bin ich kein bloßer Glücksspieler, Mr Neale. Ich habe eine akademische Spielweise entwickelt. Ich versuche, beim Spielen die Wahrscheinlichkeiten auszurechnen. Ich versuche, die Wissenschaft des Zufalls zu ergründen. Das ist mein Bestreben. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Karte ausgewählt wird? Ich versuche, das Risiko zu kalkulieren.
Das ist ein ernsthaftes Geschäft, Mr Neale. Ich erprobe am Spieltisch Modelle, die eines Tages für einen Staat von Bedeutung sein könnten.«
John Law fiel auf, dass jemand an einem Nebentisch ihrem Gespräch folgte. Es war ein auffällig gekleideter junger Mann, der sich nobler als der König von England gab und einem bewaffneten Gentleman gegenübersaß, der offenbar sein Untergebener war.
Als sie schon gehen wollten, kam ein Zeitungsjunge herein, der die druckfrische »London Gazette« feilbot. Die »London Gazette« erschien dreimal wöchentlich in einer Auflage von siebentausend Exemplaren und galt mittlerweile als wichtiger Meinungsmacher. John Law und Thomas Neale kauften je ein Exemplar. Als Thomas Neale die Münzen sah, die der Junge als Wechselgeld auf den Tisch legte, platzte dem königlichen Münzprüfer der Kragen. Er hielt das Geld hoch und brüllte so laut, dass alle anderen Gespräche verstummten:
»Willst du uns gestutzte Münzen andrehen, du Flegel? Glaubst du, dass wir zu besoffen sind, um zu merken, dass diese Münzen nichts mehr wert sind?«
Die Dame de Comptoir kam herbeigerannt und wollte Thomas Neale beschwichtigen. Aber Thomas Neale klatschte die Münzen auf den Tisch und zeigte auf das Corpus Delicti. Die Seiter der Silbermünzen waren derart flach gerieben, dass sie höchstens noch die Hälfte des ursprünglichen Gewichts und somit auch ihres Wertes hatten.
»Was kann denn der Junge dafür, dass die Münzen schon so lange in Umlauf sind? Ich wette, die sind über hundert Jahre alt.« Die Dame legte die Münzen auf den Tisch zurück und drängte die Umstehenden energisch beiseite. Sie hatte eine anstrengende Nacht hinter sich. Doch Neale echauffierte sich noch mehr und fegte die Münzen mit einer wilden Handbewegung vom Tisch. Dabei stieß er mit dem Ellbogen dem rauchenden Nachbarn die Tonpfeife in den Rachen. Dieser fiel rückwärts von der Bank. Röchelnd fasste er sich an den Hals, als würde er gleich ersticken. Doch plötzlich, und völlig überraschend, erhob er sich wieder und donnerte Neale die Faust ins Gesicht. Neale schien einen Augenblick benommen. Er kippte wie ein Sack von der Bank. Als er sich wieder erheben wollte, sprang ihn der andere von hinten an. Innerhalb kürzester Zeit hatte sich eine wilde Keilerei entwickelt. Tassen und Tonpfeifen flogen durch die Luft, Stühle zersplitterten, einige Gäste flohen. Die Wirtin verfolgte die Zechpreller auf die Straße hinaus. Irgendjemand brüllte um Hilfe, verlangte nach dem Konstabler.
John Law blieb die ganze Zeit über ruhig an seinem Tisch. Durch das Getümmel hindurch sah er den jungen Mann, der ihn offenbar trotz des Tumults weiter beobachtete. Auch ohne Fächersprache begriff Law, dass der Fremde irgendetwas von ihm wollte.
Als der Konstabler mit einigen Hellebardieren das Lokal betrat, kehrte sofort Ruhe ein. Der Wachtmeister erkannte gleich den Münzmeister des Königs und fragte ihn, was hier geschehen sei.
Thomas Neale versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Blut floss aus seiner Nase. Und als er sich einen Ruck gab und den Bauch nach vorn drückte, um den Rücken durchzustrecken, erbrach er den französischen Brandy und den schottischen Whisky und den Rum von den Westindischen Inseln und alles, was er an diesem Abend in sich hineingeschüttet hatte, in einem imposanten Schwall über den Bretterboden. Und dann folgte noch ein ganz leiser Rülpser.
Der junge Mann, der John Law so lange Zeit beobachtet hatte, stand nun auf, gefolgt von seinem bewaffneten Begleiter. Beide bewegten sich zum Ausgang. Kurz bevor der Beau an John Law vorbeiging, blieb er stehen und schaute dem Schotten in die Augen. Unter seinem Samtmantel trug der Fremde ein teures Plüschgewand mit goldenen Knöpfen und goldenem Zwirn. Die Perücke musste mindestens vierzig Shilling gekostet haben. Die Handschuhe dufteten nach Mandelcreme. Jedes Lederteil an seiner Aufmachung war mit feinster Jasminbutter eingerieben und so schmiegsam gemacht worden.
»In welchem Salon darf ich Ihre Künste bewundern, Sir?«, fragte er, ohne die Miene zu verziehen.
»Morgen Abend bei Lord Branbury«, entgegnete John Law ebenso ungerührt.
Der junge Mann hieß Edward Wilson, genannt Beau Wilson. Der Mann, der nicht von seiner Seite wich, war Captain Wightman. Ein drahtiger Mensch mit unruhigem Blick. Die einen sagten, dass Captain Wightman Beau Wilson begleitete, um ihn zu beschützen, weil Wilson so vermögend war. Andere behaupteten, dass Wilson sich lediglich deshalb mit einem Leibwächtei umgab, um diesen Eindruck zu erwecken. Männer und ihre Strategien ...
Edward Wilson war in bester Laune, als John Law am nächsten Abend im gut besuchten Salon von Lord Branbury die Karten verteilte. Law hatte das Privileg, die Bank halten und die Karten verteilen zu dürfen. In wenigen Monaten war John Law zu einer Attraktion geworden. Kein Spieler vor ihm hatte es verstanden, derart souverän die Chancen von Karten zu berechnen. Kein Mensch in England verfügte über die Gabe, derart schnell den Einsatz festzulegen, den man für diese oder jene Chance tätigen konnte. Seine exotische Begabung hatte sich wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet. Immer mehr Spieler bemühten sich um eine Einladung in den Salon von Lord Branbury.
An jenem Abend erkannte John Law einen alten Bekannten: den Franzosen Antoine Arnauld. Auch er hatte vom Ruf des John Law gehört, und er war gekommen, um sich erneut mit ihm zu messen.
Als in den frühen Morgenstunden die meisten Gäste gegangen waren, saß Arnauld immer noch am Spieltisch. Und spielte. Auch Beau Wilson war geblieben. Und Betty Villiers, die angebliche Mätresse des Königs. Und im Hintergrund, fast verborgen, die mysteriöse Catherine Knollys, die Schwester von Lord Branbury. Nach jeder Partie mischte John Law die Karten neu. Dabei hob er den Kopf und suchte mit den Augen Catherine Knollys. Manchmal hatte er den Eindruck, dass ihre Augen ihm zulächelten, dass sie ihn ermunterte, weiterzuspielen, weiter zu gewinnen, diesen Franzosen Arnauld zu bezwingen. Sie schien wie eine Verbündete. Doch sie reagierte nicht auf seine Signale, auf sein Lächeln, auf seine Blicke. John Law konnte nicht verstehen, wie ein Mann abreisen und eine Frau wie Catherine Knollys einfach in England zurücklassen konnte. Er war sicher, dass Catherine Knollys ihrem Mann überallhin gefolgt wäre. Dass sie für ihn alles gegeben hätte. Das Verhalten ihres Mannes musste sie deshalb ganz besonders schmerzen. John Law hätte eher die Religion gewechselt, als eine Frau wie Catherine Knollys im Stich zu lassen.
Bis in die frühen Morgenstunden hatte John Law Antoine Arnauld größere Summen abgenommen, doch der Franzose gab nicht auf. Er eroberte sich Jeton um Jeton zurück. Als die Einsätze wieder ausgeglichen waren, bot John Law eine Beendigung der Partie an. Doch Antoine Arnauld wollte weiterspielen. Es war eine Frage der Ehre, ihm diese Bitte zu gewähren. Wahrscheinlich um John Law abzulenken, versuchte der Franzose, ihn in Gespräche zu verwickeln. Gespräche über etwas, das er »Nationalökonomie« nannte. Kein Mensch hatte das Wort jemals gehört. Arnauld versuchte Gespräche über monetäre Theorien, über Systeme, die imstande wären, den gewaltigen Mangel an Bargeld aufzuheben. Gespräche über Parallel- und Ersatzwährungen, über die Schriften von Petty, Barbon, Hugh Chamberlen, Bernoulli. Immer wieder Bernoulli. Und sogar über Gott. Welchen Wert hat Gott? Ist Gott käuflich? Hat Gott überhaupt einen Wert? Ist eine Idee handelbar?
John Law war durchaus imstande, der Diskussion zu folgen und gleichzeitig in verblüffender Geschwindigkeit seine Kopfrechnungen anzustellen. Keinem gelang ein signifikanter Vorsprung. Der Morgen graute. Sie waren beide Meister ihres Fachs. Schließlich versuchte Antoine Arnauld es mit einem alten Verbündeten. Wie damals in Edinburgh. Antoine Arnauld bestellte Gin für sich und John Law. Ein Diener servierte umgehend die Getränke.
Aber John lehnte dankend ab. »Man sollte nicht zweimal den gleichen Fehler machen, Mr Arnauld.«
Antoine Arnauld trank einige Gläser und bat nach einer knappen Stunde um eine allerletzte Runde. John Law gewährte ihm die Bitte. Antoine Arnauld bat darum, die Einsätze zu verzehnfachen. John Law gewährte ihm auch diese Bitte. Antoine Arnauld wollte das Glück erzwingen. Er setzte alles auf eine Karte. Und verlor. Plötzlich waren alle Gespräche verstummt. Alle schauten auf Antoine Arnauld. Was würde er tun?
Antoine Arnauld lächelte und erhob sich von seinem Stuhl: »Mein Kompliment, Mr Law. Das Geld, das Sie damals in Edinburgh verloren haben, war eine hervorragende Investition.«
John Law verbeugte sich knapp und lächelte zurück: »Und welcher Mensch kann sich schon rühmen, mit einem Verlust Gewinn erzielt zu haben?«
Die Umstehenden verstanden die Bedeutung dieser Konversation nicht und wechselten fragende Blicke. Aber der Abend hatte ihnen imponiert.
»Ein Jammer, dass unser König nicht dabei sein konnte«, lächelte Betty Villiers, »er weiß außerordentliche Fähigkeiten zu schätzen.«
John Law bedankte sich mit einer leichten Verbeugung und lächelte: »Ich stehe jederzeit zur Verfügung.«
Verhaltenes Gelächter. Einige der Anwesenden schienen diese Bemerkung falsch zu interpretieren oder interpretieren zu wollen. Arnauld verließ den Saal. Nach seinem Schritt zu urteilen, war er Opfer seiner eigenen Strategie geworden. Er hatte den Gin getrunken, den John Law dankend abgelehnt hatte. Jemand klatschte leise in die Hände. Es war Edward Wilson. Er hatte sich John Law unbemerkt genähert. Etwas verträumt streichelte er seinen Stock und ließ frivol die Zunge über die Lippen fahren.
»Sir, mein Kompliment. Ich bin entzückt, verzaubert. Ist es Glück, Können, Zauberei oder - ein simpler Trick?« Theatralisch neigte er den Kopf zur Seite, als würde ihm der Gedanke, es könnte nichts weiter als ein simpler Trick gewesen sein, das Herz brechen und ihn in eine tiefe Melancholie stürzen.
»Ich bin Mathematiker, Sir, kein Spieler. Was ich hier demonstrieren durfte, war die Mathematik von Zufall und Wahrscheinlichkeit am Beispiel eines Kartenspiels.«
»O«, entfuhr es Wilson, und er befühlte gedankenverloren die Seide seines smaragdgrünen Halstuchs. Dann wandte er sich erfreut an die Umstehenden: »Wir sind beeindruckt. Wir danken Lord Branbury, dass er uns John Law of Lauriston in seinem Salon vorgestellt hat.«
John Law war indessen klar, dass Wilson zu wenig Verstand hatte, um die mathematische Bedeutung des Kartenspiels zu verstehen. Wilson schien zur jeunesse doree zu gehören, die über Geld und Manieren verfügte, aber kaum über genügend Esprit, um einen Abend lang zu unterhalten. Als Wilson der Aufmerksamkeit der Umstehenden sicher war, wandte er sich erneut an John Law: »Ich habe gehört, Mr Law, Sie haben in St. Giles ein Haus gemietet. Die Wohnung im Erdgeschoss soll noch frei sein?«
»Das ist richtig, Sir ...«
»Edward - Beau - Wilson.« Er strahlte. Gütig und barmherzig breitete er die Arme aus und genoss das bewundernde Lächeln der Anwesenden. Dann wandte er sich erneut an John Law: »Darf ich fragen, Sir, ob Sie die Güte hätten, meiner Schwester die Wohnung zu vermieten?«
John Law war überrascht. Ihm war nicht ganz wohl bei der Sache. Sein Gefühl sagte ihm, dass Wilson ein Mann war, der mit Vorsicht zu genießen war. Instinktiv suchte sein Blick Catherine Knollys. Sie schien zu nicken. Vielleicht hatte sie auch bloß den Kopf bewegt.
»Sehr gern, Mr Wilson«, antwortete Law, »kommen Sie doch morgen zu mir zum Tee.«
Lord Branbury bedankte sich erneut bei John Law für dessen imposante Vorführung und sicherte ihm zu, dass er stets bei ihm die Gunst erhalten sollte, die Bank zu führen, solange es ihm beliebe. Er betonte, wie sehr er es schätze, dass John Law die Einladungen anderer Salons ablehnte und ihm weiter die Treue hielt. Diese Bemerkung war eher als Wink zu verstehen, ebendies zu tun. Lord Branbury führte John Law in die Halle hinaus. Als sie an Catherine Knollys vorbeigingen, blieb der Lord stehen, um seinem Gast die Gelegenheit zu geben, sich von Lady Knollys zu verabschieden.
John Law küsste galant ihre Hand. Lord Branbury entfernte sich diskret. John Law lobte die rote Blume, die Catherine Knollys an ihrem Kleid angesteckt hatte Sie sei genauso geheimnisvoll und anziehend wie die Dame, die sie trage. Zu seinem Erstaunen antwortete Catherine Knollys weder mit ihrem Fächer noch mit einem Lächeln, sondern sagte, dass diese Blume aus der Neuen Welt stamme: »Es ist die rote Blume der Feuerbohne. Ich kaufe sie jeden Mittwoch um elf Uhr am Covent Garden.«
»Elf Uhr«, wiederholte John Law und fügte an: »Zahlen kann ich mir besonders gut merken, Madam.«
Der nächste Tag war ein Mittwoch. John Law verließ das Haus, das er sich auf Dauer nicht leisten konnte, und fuhr Richtung Süden. Der Kutscher zügelte den Vierspänner, als sie die Wiesen und Alleen passierten, die zu den herrschaftlichen Anwesen führten. Die Straßen waren nach dem Großen Feuer von 1666 neu angelegt worden. Auf der Höhe von Covent Garden klopfte John Law zweimal mit dem Stockknauf gegen die Kutschendecke. Die Pferde wurden angehalten. John Law wies den Kutscher an, auf ihn zu warten.
John Law überprüfte seine Kleidung, den Sitz der Perücke und reckte die Brust heraus. Dann machte er sich auf den Weg. In London kursierte ein Sprichwort, wonach man beim Essen und Trinken sparen könne, auch bei den Damen und den abendlichen Vergnügungen, aber niemals bei der Kleidung.
John Law war überrascht, wie viele bekannte Gesichter ihm unterwegs begegneten und wie freundlich die Leute ihm gesinnt zu sein schienen. John Law sah und wurde gesehen. Zahlreiche Kutschen warteten entlang der Straße auf die Schönen und Reichen, die den Blumenmarkt am Covent Garden besuchten. John Law grüßte mit knappen, aber freundlichen Verbeugungen nach links, nach rechts. Ein wunderbarer Duft lag wie eine unsichtbare Blütendecke über dem Markt. Weiter hinten sah er die Kirche St. Martin-in-the-Fields. John Law ging an den sandsteinfarbenen Arkaden entlang, bis er über einen Kieselweg die Rückseite des Gotteshauses erreicht hatte. Instinktiv schaute er in die richtige Richtung. Unter einem Arkadenbogen stand Catherine Knollys. Mit einem Fächer bedeckte sie einen Teil ihres Gesichtes. In der anderen Hand hielt sie einen leeren Korb. John Law spürte ein sanftes Flattern in den Gliedern. Er wollte sich beherrschen, keine Nervosität zeigen. Vergebens. Er war Catherine Knollys schon erlegen, bevor er ihre Hand berührte.
»Sie bringen mir Glück«, sagte John Law und blieb strahlend vor der jungen Frau stehen. Er schaute sie an, liebkoste sie mit seinem warmen Blick. Seine Augen schienen zu flüstern, dass er sie liebte, dass er sie begehrte, dass sie Besitz von allen seinen Gedanken und Gefühlen genommen hatte.
»Wenn ich spiele, sind Sie meine Verbündete.« Er hatte es eigentlich nicht sagen wollen.
»Ich weiß«, sagte Catherine und senkte fast beschämt den Kopf, »ich hoffe stets, dass Sie gewinnen, Sir. Ich beobachte Sie gern beim Spielen.«
»Und ich beobachte Sie«, flüsterte Law, als er ihre Hand berührte, »sogar in meinen Träumen...«
Catherine Knollys lächelte: »Dann sind Sie es tatsächlich, in meinen Träumen. Ich habe zuweilen das Gefühl, dass ...«
Sie hielt abrupt inne und grüßte ein Paar, das über den Platz zum Blumenmarkt hinüberschlenderte.
»Was haben Sie zuweilen für ein Gefühl, Mrs Knollys?«
»Es ist nicht wichtig, Mr Law. Sagten Sie nicht kürzlich am Spieltisch, dass gewisse Dinge einfach geschehen?«
»Ja«, entgegnete John leise, »es ist auch etwas geschehen, und ich möchte, dass es weiter geschieht.«
Catherine Knollys nickte kaum merklich mit dem Kopf: »Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Blumen aus der Neuen Welt.«
Der Fremde scharrte mit seinen Reitstiefeln über den Fußboden des »Rainbow«. Die Holzbohlen des Kaffeehauses in der Fleet Street waren mit Sand bestreut, und unter den verschmutzten Tischen türmte er sich gar zu kleinen Dünen. Überall am Boden standen Spucknäpfe herum. An den Wänden blakten die Lampen entsetzlich. Der Fremde saß vor einer Schale Kaffee und dachte nach. Jetzt, wo der Zeitungsjunge die neuen Flugschriften und Nachrichtenblätter verteilt hatte, war es im »Rainbow« still geworden. Andächtig schmauchten die Londoner an ihren Tonpfeifen und nahmen das Lebenselixier in sich auf, das aus Gerüchten, Skandalen, Spekulationen und haarsträubenden Geschichten bestand. Der Fremde wandte sich an den Mann mit der Lederschürze, der ihm gegenübersaß. Wahrscheinlich ein Weinhändler.
»Ich suche einen Mann«, begann der Fremde.
»Aha«, erwiderte der andere, ohne von seiner Zeitung aufzublicken, »in London gibt's viele Männer.«
»Er ist Anfang zwanzig, groß gewachsen, manche mögen ihn für gut aussehend halten ...«
Der Weinhändler blickte kurz von seiner Zeitung auf. »Und womit vertreibt er sich seine Zeit? Falls Sie das wissen, kann ich Ihnen vielleicht sagen, wo er seinen Kaffee trinkt.«
»Er spielt Karten.«
»Hmm ... ein Kartenspieler. Kartenspiele gibt's überall, unten am Hafen, aber auch in den feinen Salons ...«
»Er wird wohl in den vornehmen Salons verkehren.«
Der Weinhändler vertiefte sich wieder in seine Zeitung und murmelte, dass er die feinen Salons nur vom Hörensagen kenne.
»Er ist noch nicht lange in der Stadt. Vielleicht hat er von sich reden gemacht. Mit Frauengeschichten, Duellen, Kartentricks.«
»Fragen Sie im >Lincoln's Inn Fields<, da treffen sich die ausländischen Spieler ...«
»Ich sagte doch: Er spielt wahrscheinlich in den feinen Salons.«
Der Weinhändler stieß die Zeitung auf den Tisch, spuckte auf den Boden, wobei er den Spucknapf deutlich verfehlte. »Dann kann ich Ihnen auch nicht helfen. Fragen Sie jemand anderen!«
Der Fremde stand auf. Er war groß gewachsen und kräftig. Erst jetzt sah der Weinhändler ihn sich genauer an.
»Mein Gott, was haben Sie denn mit Ihrem Ohr gemacht?«, rief er ihm hinterher. Aber der Fremde war schon zur Tür hinaus.
Am selben Tag erschien zur Teezeit Edward Beau Wilson in St. Giles. John Law trat dem Gast auf der Außentreppe entgegen. Wilson hatte seine Schwester mitgebracht. Sie war nach der neuesten französischen Mode herausgeputzt. Wie ein stolzer Schwan schwebte sie über den Parkettboden der Etagenwohnung, die John Law zu vermieten gedachte. John mochte die junge Frau nicht. Auf Anhieb nicht. Sie war hochnäsig und arrogant. Mehr nicht. Sie hatte keinen Esprit, keinen Charme. Ja, sie war einfach hübsch wie fast alle jungen Frauen in diesem Alter.
Zu John Laws Bedauern gefiel ihr die Wohnung. Oder war alles nur eine abgekartete Sache? Wollte Edward Beau Wilson ihn möglicherweise mit seiner Schwester verkuppeln? John Law stieß innerlich einen Seufzer aus. Was sollte er tun? Er brauchte dringend zusätzliche Einnahmen. Zwar galt er mittlerweile als Attraktion in der Stadt und genoss in vielen Salons das Privileg, die lukrative Rolle der Bank zu übernehmen. Doch verdiente er damit nicht genug, um seinen zunehmend aufwändigeren Lebensstil zu finanzieren.
Ein gutes Paar Schnallenschuhe kostete mittlerweile mehr als ein halbes Jahr Miete. Und wenn er tatsächlich eines Tages beim König seine Thesen vortragen wollte, brauchte er mehr als ein Paar neue Schnallenschuhe.
Also bekam Wilsons Schwester die Wohnung. Aber sie bekam nicht das Herz von John Law. Das war seit diesem Morgen bereits vergeben.
Shrewsbury war um die fünfzig Jahre alt und untersetzt. Wer einmal sein Gesicht mit den hervorquellenden Froschaugen gesehen hatte, vergaß es so schnell nicht mehr. Shrewsbury war stets vorzüglich gekleidet, er trug schwarze Kniehosen, schwarze Seidenstrümpfe und ein stets makellos weißes Halstuch. Ursprünglich hatte er wie John Laws Vater Goldschmied gelernt, dann hatte er begonnen, mit Devisen zu handeln. Heute war er ein reisender Bankier. Kredite vergab er aufgrund von Wahrscheinlichkeitsschätzungen. Er hatte dafür im Laufe der Jahre einen eigenen Algorithmus zur Berechnung von Risiken entwickelt.
Shrewsbury und John Law trafen sich regelmäßig im »Chapter«, dem Kaffeehaus der Buchhändler und Schriftsteller. Hier konnten auch Kontakte zu Druckereien geknüpft werden, die verlegerisch tätig waren. Im »Chapter« konnte man nicht nur geniale Mathematiker mit unveröffentlichten Manuskripten antreffen, sondern auch Leute wie den umtriebigen Daniel Defoe, der die Idee propagierte, in Zukunft als Auftragsschreiber vermögend zu werden. Die Idee stammte, wie alles, was Daniel Defoe propagierte, nicht von ihm, sondern von den Armenpfarrern, die das »Chapter« aufsuchten und für zwei Shilling Auftragspredigten schrieben. Das »Chapter« war der Marktplatz des geschriebenen Wortes, und Shrewsbury liebte das »Chapter«. Vor allem die hintere Ecke mit dem Fenster zum Hof. Hier traf sich täglich der »Wet Paper Club«, der Verein der »beschwipsten Blätter«, und die Schriftsteller, die ihm angehörten, machten diesem Namen alle Ehre.
»Ihre Mutter ist sehr besorgt«, begann Shrewsbury an John Law gewandt, »sie glaubt, dass Sie aus Ihren Fehlern in Edinburgh nichts gelernt haben.« Shrewsbury nuckelte an seiner Tonpfeife und steckte dann den Zeigefinger in seine Kaffeeschale, um zu prüfen, ob das heiße Gebräu nun trinkbar war. Dann schaute er John Law eindringlich in die Augen.
John Law zuckte mit den Schultern: »Ich sagte Ihnen bereits, dass meine Aktivitäten Teil eines Plans sind. Ich verkaufe keine Holz- oder Glaswaren, ich verkaufe eine Idee. Ich baue keine Fabrik, um Holz- oder Glaswaren herzustellen, sondern ich knüpfe ein Netz von Beziehungen, um Kontakt zu potenziellen Käufern meiner Idee zu bekommen.«
»Kontakt zum König?«, fragte der Bankier.
John Law nickte. »Und das kostet Geld«, antwortete er trocken.
»John«, fing Shrewsbury erneut an. Er schien nicht überzeugt. »Wir haben bisher immer gute Geschäfte miteinander gemacht. Ich bin gern bereit, weitere Geschäfte mit Ihnen zu machen. Aber ich muss Sie darauf hinweisen, dass Sie sich dringend nach neuen Einnahmequellen umsehen sollten.«
Shrewsbury kramte umständlich einen Brief aus seiner ledernen Schultertasche und übergab ihn John Law. Das Schreiben trug das Siegel von Lauriston Castle. Es war von Johns Mutter an Shrewsbury. Sie wies den Bankier an, ihrem Sohn, John Law, wohnhaft in London, vierhundert Pfund zu übergeben. Shrewsbury setzte darauf ein Dokument auf, das bescheinigte, dass er, Shrewsbury, gegen Vorweisung und Abgabe dieses Dokumentes Metallmünzen im Wert von vierhundert Pfund ausbezahlen würde.
»Aber rennen Sie mir damit nicht gleich zum nächsten Schneider, John. Mit Ihren Ausgaben könnte man ein ganzes Dorf einkleiden.«
»Ich habe dem, was ich soeben erläutert habe, nichts mehr beizufügen, Mr Shrewsbury.«
Shrewsbury schaute John Law skeptisch an. »Mir gefällt Ihre Idee, John, aber Sie wissen, dass noch in diesem Sommer eine englische Bank gegründet werden soll.«
»Meine Ideen gehen wesentlich weiter, Mr Shrewsbury. Ich werde die Zukunft verkaufen.«
»Sie scherzen, John?«
»Nein, Mr Shrewsbury, ich feile noch daran. Aber eines Tages werden die Leute Metallgeld bezahlen für Dinge, die noch gar nicht existieren.«
»Das wäre eine neue Form der Hochstapelei.« Shrewsbury schien amüsiert.
»Nein«, entfuhr es John Law, »das ganze Land würde über Nacht mit einer noch nie da gewesenen Liquidität versorgt...«
»Und Sie meinen, das wird der König verstehen?«, unterbrach ihn Shrewsbury und schmauchte genüsslich an seiner Pfeife. Ein Mann klopfte ihm von hinten auf die Schulter. John erkannt ihn sofort wieder. Es war Daniel Defoe. Er setzte sich mit einem Manuskript neben den Bankier. Seine goldfarbene Allongeperücke hatte jeglichen Glanz verloren.
»Nicht Sie schon wieder, Defoe. Sie sind schuld, dass so viele Bankiers und Goldschmiede sterben«, lachte Shrewsbury. »Sie sollten Ihre Ideen ausschließlich in Ihren Büchern verwirklichen, nicht in der Realität, nicht mit richtigem Geld.«
Daniel Defoe lächelte. »Spotten Sie nur. Ein Genie muss Spott erdulden können.«
»Aber nicht jeder, der Spott erduldet, ist ein Genie«, lächelte John Law zurück.
»Mr Law, helfen Sie mir doch bitte, Mr Shrewsbury von meinem Projekt zu überzeugen, und ich besorge Ihnen einen Termin beim Minister für schottische Angelegenheiten.«
Law zog skeptisch die Augenbrauen in die Höhe.
»Er sucht Schotten, um in Edinburgh einen Ring von geheimen Agenten aufzubauen«, entfuhr es Daniel Defoe. Einige Gäste an den anderen Tischen drehten sich um.
»Wollen Sie es nicht gleich in der Zeitung publizieren?«, scherzte Shrewsbury und winkte den Zeitungsjungen herbei, der soeben das Kaffeehaus betreten hatte.
Daniel Defoe wandte sich an John Law. Doch der ließ ihn nicht zu Wort kommen: »Mr Defoe, Sie sollten ein Buch über Ihre unternehmerischen Bankrotte schreiben. Das wäre erstens unterhaltsam und würde zweitens Menschen davon abhalten, Ähnliches zu tun.«
»Und die Bankiers würden sich nicht reihenweise in die Themse stürzen müssen«, lachte Shrewsbury, während er die Meldungen auf der ersten Seite der »London Gazette« überflog.
»Einverstanden, meine Herren.Aber dann gewähren Sie mir einen Kredit, um ein solches Werk zu schreiben«, konterte Defoe. Nichts, aber auch gar nichts schien ihn aus dem Konzept bringen zu können. Solange er nüchtern war. Lauthals bestellte er eine Schale Kaffee, bedankte sich bei Shrewsbury für die vermeintliche Einladung und dankte dem Bankier, dass er sein neuestes Werk finanziere. »Ich werde Sie dafür selbstverständlich an den Einnahmen beteiligen.«
»Das heißt, ich gehe leer aus«, spottete Shrewsbury.
»Investieren Sie in die Zukunft!«, schrie Defoe enthusiastisch und genoss, dass sich die Leute im »Chapter« erneut nach ihm umdrehten.
»Jetzt will mir schon wieder jemand die Zukunft verkaufen«, grummelte Shrewsbury.
»Aber wenn ich es recht bedenke, Mr Defoe, wer will schon die Geschichte eines Menschen lesen, der gescheitert ist?«, fragte John Law.
»Dann schreibe ich eben nicht meine Geschichte«, erwiderte Defoe, »sondern die abenteuerliche Geschichte eines Matrosen, der sich als einziger Überlebender auf eine einsame Insel retten kann. Und überlebt!«
Shrewsbury winkte ab: »Die Zeitungen sind voll von solchen Geschichten.«
»Genau!«, schrie Defoe. »Und warum sind die Zeitungen voll von diesen Geschichten? Weil die Menschen diese Geschichten mögen! Was würde ich tun, wenn ich plötzlich einsam auf einer Insel wäre? Unheimliche Riesenechsen, schwarze Wilde mit grausamen Sitten, Menschenfresser ...?«
»Und liebestolle Weiber«, grölte jemand am Nachbartisch. Gelächter machte sich breit.
Doch Mr Defoe stimmte nicht in das Gelächter ein. Er dämpfte seine Stimme: »Ich würde das einsame Leben dieses Menschen so beschreiben, als sei ich selbst dabei gewesen. Als sei ich dabei gewesen, um für eine Zeitung darüber zu berichten. So hat noch niemand geschrieben.«
Shrewsbury empfahl Defoe, sich doch zu den beschwipsten Dichtern zu setzen, und verschwand hinter seiner Zeitung. Defoe warf Law einen kurzen Blick zu. John Law war verärgert. Jetzt war nicht mehr daran zu denken, Shrewsbury einen Kredit zu entlocken. Daniel Defoe bemerkte Laws Schweigen.
»Wir sind unserer Zeit voraus. Nicht wahr, Mr Law?«
John Law schwieg.
»Ihnen ergeht es wie mir, wenn Sie den Leuten Ihre berühmten Geldtheorien unterbreiten«, murmelte Defoe deprimiert. Er schien allen Enthusiasmus verloren zu haben.
John Law sah den Schriftsteller versöhnlich an: »Es ist keine Auszeichnung, seiner Zeit voraus zu sein, Mr Defoe. Es ist eher komisch. Und meistens tragisch.«